Unsere moderne Welt ist tiefgreifend digitalisiert – von der Kommunikation über Finanzen bis hin zur kritischen Infrastruktur ist fast jeder Lebensbereich vernetzt. Diese allumfassende Vernetzung schafft einerseits neue Möglichkeiten, bringt andererseits jedoch eine nie dagewesene Verwundbarkeit mit sich. Je stärker wir uns auf digitale Technologien verlassen, desto größer wird unsere potenzielle Angriffsfläche für Cyberbedrohungen[1]. Inmitten dieser digitalen Sphäre stellt sich die Frage nach Sicherheit neu: Was bedeutet es eigentlich, „sicher“ zu sein, wenn Unsicherheit zum menschlichen Grundzustand gehört? Die Philosophie des Existenzialismus – insbesondere die Gedanken von Jean-Paul Sartre und Albert Camus – betont, dass Unsicherheit, Angst und der Kampf um Sinn grundlegende Bestandteile des Menschseins sind. Dieser Artikel beleuchtet, wie existenzialistische Kernthemen wie Angst, Freiheit und Verantwortung auf den Cyberraum übertragen werden können, und wie die absurde Suche nach vollkommener digitaler Sicherheit an Sisyphus’ endlosen Kampf erinnert.
Existenzialismus: Freiheit, Angst und Verantwortung
Existenzialismus ist eine philosophische Strömung, die -zumindest in der Ausprägung Satres (vgl. Lettres 3/1945, p. 82-88 „A propos de /’existentialisme est un humanisme?“, 1946) von einem anthropozentrischen Weltbild ausgeht und sich somit mit der Frage auseinandersetzt, was es bedeutet, als Mensch zu existieren[2]. Im Mittelpunkt steht die individuelle Erfahrung und die Feststellung, dass es keinen vorgegebenen Sinn des Lebens gibt – der Mensch muss seinem Dasein selbst Bedeutung verleihen. Sartre formulierte dies prägnant als „Existenz geht der Essenz voraus“: Der Mensch wird ohne festgelegtes Wesen geboren und definiert sich erst durch seine Handlungen[2]. Damit einher geht radikale Freiheit – und die Notwendigkeit, Verantwortung für diese Freiheit zu übernehmen[2].
Freiheit und Verantwortung im menschlichen Dasein
Für Jean-Paul Sartre ist der Mensch “zur Freiheit verurteilt”: Da es keine von außen auferlegten Werte oder einen göttlichen Plan gibt, liegt es an jedem Einzelnen, durch Entscheidungen den eigenen Lebensweg zu formen. Diese Freiheit ist gewaltig, bringt jedoch eine ebenso gewaltige Verantwortung mit sich[2]. Ohne vorbestimmte Maßstäbe muss der Mensch selbst festlegen, was richtig oder falsch, sinnvoll oder sinnlos ist – und trägt die Konsequenzen seines Handelns. Sartre betont, dass wir nicht in Ausreden flüchten dürfen (etwa durch Religion oder Determinismus), um dieser Verantwortung zu entgehen. Im Gegenteil: Jeder Versuch, die eigene Wahlfreiheit zu leugnen, wäre in Sartres Worten „Unaufrichtigkeit“ oder Selbsttäuschung (mauvaise foi). Wahre Authentizität bedeutet, die eigene Freiheit anzunehmen und bewusst für die Folgen einzustehen[2].
Ein zentrales existenzialistisches Konzept ist dabei die Angewiesenheit auf eigene Werte. Da “die Natur uns keine Orientierung gibt” und keine objektiven Sinnvorgaben existieren, besitzt der Mensch absolute Freiheit, muss aber Werte und Sinn eigenständig erschaffen[2]. Dies entspricht einem monumentalen Auftrag: Man ist für alles verantwortlich, was man tut und sogar dafür, was man wird. Sartre schrieb dazu: „Der Mensch muss sich sein eigenes Wesen schaffen; indem er sich in die Welt wirft… definiert er sich allmählich; und die Definition bleibt immer offen“[2]. Somit ist unser Leben ein fortwährender Schaffensprozess – frei, aber nie abgeschlossen, solange wir leben.
Angst als Grundbefindlichkeit und „Tür zur Freiheit“
Angst (existenzielle Angst) nimmt im Existenzialismus eine besondere Rolle ein. Sie ist mehr als konkrete Furcht vor etwas Bestimmtem – es ist ein tiefgreifendes Gefühl der Verunsicherung, das eintritt, wenn wir unsere totale Freiheit und die Offenheit der Zukunft begreifen[2]. Diese existenzielle Angst, von Kierkegaard treffend als „Schwindel der Freiheit“ bezeichnet (Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst (Originaltitel: Begrebet Angst. aus dem Dänischen übersetzt und herausgegeben von Emanuel Hirsch). In: Gesammelte Werke. 11/12, 3. Auflage. Gütersloher-Verlagshaus, Gütersloh 1991), befällt uns angesichts der Tatsache, dass „alles möglich ist“ und keine festen Leitplanken existieren[2]. Paradoxerweise öffnet gerade diese Angst die Tür zur Freiheit: Sie reißt uns aus der Selbstverständlichkeit des Alltäglichen heraus und konfrontiert uns mit der Notwendigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen[2].
Sartre sah in der Angst einen Beweis unserer Freiheit. Er war überzeugt, dass man sich der Angst nicht durch blinden Rückgriff auf Gewissheiten entziehen sollte, weil sie zur Erkenntnis der eigenen Freiheit führt[2]. In dem Moment, in dem alle äußeren Sicherheiten wegfallen, spüren wir, dass wir geworfen sind, aber frei, uns selbst zu bestimmen[2]. Mit dieser Freiheit kommen jedoch unweigerlich die „Schrecken der Verantwortung“ – die Einsicht, dass wir die Folgen unserer Entscheidungen allein tragen müssen[2]. Hier zeigt sich erneut: Angst und Verantwortung sind zwei Seiten derselben Medaille.
Bei Albert Camus tritt an Stelle von Sartres Freiheitsdrama das Konzept des Absurden. Camus beschreibt die menschliche Situation als fundamental widersinnig: Der Mensch verlangt nach Sinn und Ordnung, aber er findet eine Welt vor, die keine solche Ordnung garantiert[3]. Das Absurde besteht im Spannungsverhältnis zwischen der sinnlosen Welt und unserem verzweifelten Wunsch nach Sinn[3]. Diese Erkenntnis kann ebenfalls Angst oder Verzweiflung auslösen – ein Gefühl der Fremdheit in einer Welt ohne festen Halt[2]. Camus lehnt jedoch Resignation ab: Statt in Nihilismus oder Suizid zu flüchten, fordert er, das Absurde anzunehmen und sich ihm rebellisch entgegenzustellen[2]. In “Der Mythos des Sisyphos” illustriert Camus dies mit dem Bild von Sisyphos, der ewig einen Felsblock den Berg hinaufwälzt. Obwohl die Aufgabe objektiv sinnlos ist – der Stein rollt jedes Mal zurück – entscheidet Sisyphos sich, trotzdem weiterzumachen und darin seine eigene Haltung zu finden. Camus schreibt dazu berühmt: „Man muss sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Die Botschaft lautet: Der Akt des fortgesetzten Tuns und die Weigerung, zu kapitulieren, stiften ihren eigenen Sinn – selbst im Angesicht des Absurden[4].
Zusammengefasst liefert der Existenzialismus einige wichtige Grundideen:
- Freiheit – Der Mensch ist frei und muss diese Freiheit nutzen, sein Leben selbst zu gestalten.
- Verantwortung – Mit der Freiheit kommt die volle Verantwortung für die eigenen Taten und Unterlassungen.
- Angst – Diese Verantwortung löst existentielle Angst aus, die jedoch Bewusstsein für die eigene Situation schafft.
- Absurdität – Es gibt eine grundlegende Diskrepanz zwischen unserem Sinnbedürfnis und der objektiven Sinnleere der Welt.
- Entscheidungsfreiheit – Trotz (oder gerade wegen) der Absurdität bleibt uns die Entscheidungsfreiheit und die Aufgabe, dem Leben einen selbstgewählten Sinn zu geben.
Diese Leitgedanken zeigen, wie stark die Fragen der Cybersecurity – also der Sicherheit in einer unsicheren digitalen Umwelt – mit jenen existenziellen Fragen nach Unsicherheit, Entscheidungsfreiheit und Sinnfindung verwoben sind.
Cybersecurity in der digitalen Welt: Zwischen Möglichkeitsraum und Bedrohung
Cybersecurity bezeichnet den Schutz von Systemen, Netzwerken und Daten vor digitalen Angriffen und unbefugtem Zugriff. In der Praxis umfasst dies technische Maßnahmen (wie Firewalls, Verschlüsselung, Sicherheitsupdates) ebenso wie organisatorische Prozesse und das Verhalten von Nutzern. Ziel ist es, Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit von Informationen sicherzustellen – mit anderen Worten: ein Maximum an Sicherheit in der virtuellen Sphäre zu gewährleisten.
Doch die digitale Realität ist geprägt von einer wachsenden Zahl an Bedrohungen und struktureller Unsicherheit. Jeden Tag werden neue Schwachstellen (Vulnerabilities) entdeckt und von Cyberkriminellen ausgenutzt. Es handelt sich um ein ständiges Wettrüsten: Entwickler beheben bekannte Sicherheitslücken, während Angreifer sogleich nach neuen suchen – ein endloser Zyklus der Entdeckung und Ausnutzung[5]. Technologie, die gestern noch als sicher galt, kann heute bereits verwundbar sein[5].
Tagesaktuelle Statistiken illustrieren, dass absolute Sicherheit in der vernetzten Welt kaum erreichbar ist. Im Gegenteil, die Komplexität der digitalen Infrastruktur und die Kreativität von Angreifern sorgen dafür, dass jeder Schutz immer nur vorläufig sein kann. Ein geflügeltes Wort von IT-Expertinnen lautet: “100% Sicherheit gibt es nicht”. Tatsächlich betont beispielsweise die Oxford-Professorin Sadie Creese: „Es gibt so etwas wie 100% Sicherheit nicht“ – gerade weil fortschreitende Technologien wie digitale Währungen oder KI unser Angriffspotenzial erweitern[1]. Die einzige Möglichkeit, ein Computersystem vollkommen zu schützen, wäre, es vom Internet zu trennen und von Menschen unbenutzt zu lassen – im Klartext: es gar nicht erst zu betreiben[5]. Für unsere digital abhängige Gesellschaft ist das natürlich keine Option.
Somit steht Cybersecurity immer im Zeichen von Risiko-Management, nicht von Risikobeseitigung. Sicherheit wird hier zu einem dynamischen, nie abgeschlossenen Prozess: Jede neue Verteidigungsmaßnahme provoziert irgendwann neue Angriffsmethoden, jede Innovation bringt unbekannte Verwundbarkeiten mit sich[5]. Dieses Grundmuster ähnelt frappierend den existenzialistischen Einsichten: So wie der Mensch ohne endgültige Gewissheiten leben muss, muss auch die digitale Welt ohne absolute Gewährleistung von Sicherheit auskommen. Die parallelen Themen – Angst und Unsicherheit, Freiheit und Entscheidung, Verantwortung und Risiko – treten nun deutlicher zutage.
Im Folgenden betrachten wir, wie existenzialistische Kernthemen im Kontext der Cybersecurity erscheinen: Welche Ängste prägen unsere digitale Existenz? Wie beeinflusst der Wunsch nach Sicherheit die Freiheit im Netz? Welche Verantwortung trägt der Einzelne in dieser Gleichung? Und warum gleicht das Streben nach vollkommener Sicherheit einem absurden Schauspiel?
Existenzielle Angst im Cyberraum
Im existenzialistischen Sinne bezeichnet Angst ein tiefes Unbehagen angesichts der Unbestimmtheit der Zukunft und der eigenen Verantwortung. Übertragen auf den Cyberraum erleben viele Menschen heute eine vergleichbare Grundunsicherheit im digitalen Leben. Täglich lesen wir von Datenlecks, Identitätsdiebstahl, Hackerangriffen und staatlicher Überwachung. Dieses Bedrohungsgefühl kann zu einer Art digitaler Existenzangst führen: der diffuse Sorge, jederzeit Opfer eines Cyberangriffs zu werden oder die Kontrolle über die eigenen Daten zu verlieren.
Diese Angst ist nicht unbegründet. Umfragen zeigen, dass ein Großteil der Bevölkerung ernsthaft beunruhigt ist: Laut einer 2025 veröffentlichten Bitkom-Studie schätzen 70% der Deutschen die Gefahr durch Cyberkriminalität als hoch ein, und 61% haben konkret Angst vor einem eskalierenden „Cyberkrieg“ zwischen Staaten[6]. Interessant ist dabei, dass die Leute die allgemeine digitale Bedrohungslage für das Land deutlich höher einschätzen als die persönliche Gefahr für sich selbst[6] – ein Hinweis darauf, dass Cyberangst oft abstrakt im Hintergrund schwelt. Dennoch: Fast zwei Drittel der Menschen macht es Angst, wie leicht z.B. das Internet durch Angriffe auf zentrale Infrastruktur (etwa Unterseekabel) gestört werden kann[6].
Existenzialistisch betrachtet konfrontiert uns diese allgegenwärtige Unsicherheit im Netz mit grundlegenden Fragen: Wie können wir uns in einer digitalen Welt geborgen fühlen, wo doch jederzeit etwas Unerwartetes passieren kann? Ähnlich der existenziellen Angst, die den Einzelnen isoliert und auf sich selbst zurückwirft[2], kann die Cyberangst den Nutzer in eine verstärkte Wachsamkeit drängen. Man fühlt sich letztlich allein verantwortlich, ständig auf der Hut zu sein – niemand sonst kann einem das Gefühl völliger Sicherheit geben.
Wie Sartre es für die existenzielle Angst beschrieb, öffnen digitale Ängste ebenfalls den Blick auf unsere Möglichkeiten und Pflichten: Anstatt blind zu vertrauen, erkennen wir die Notwendigkeit eigener Vorsicht und Vorsorge. Viele reagieren darauf, indem sie stärkere Passwörter nutzen, genaue Privatsphäre-Einstellungen vornehmen oder misstrauischer gegenüber E-Mails und Links werden. Diese Verhaltensanpassungen sind im Grunde Ausdruck der Übernahme von Verantwortung im Angesicht der Angst – ein sehr existenzieller Zug. Die Angst fungiert damit, so unangenehm sie sein mag, als Motor für bewusstes, reflektiertes Handeln.
Andererseits birgt ständige digitale Angst auch die Gefahr von Paranoia und Ohnmachtsgefühlen. Existenzialisten warnen davor, dass das Verharren in Angst zu Verzweiflung führen kann, wenn sie nicht kanalisiert wird[2]. Übertragen heißt das: Wir dürfen uns von Cyber-Bedrohungen nicht vollkommen lähmen lassen. Camus’ Ansatz, der sogar im Absurden noch Handlungsspielraum sieht, legt nahe, die gegebenen Unsicherheiten mutig zu akzeptieren, ohne daran zu zerbrechen. So wie wir lernen müssen, mit der Ungewissheit des Lebens umzugehen, müssen wir auch lernen, mit der Ungewissheit des digitalen Raumes zu leben – wachsam, aber ohne in Panik oder Passivität zu verfallen.
Der Mythos absoluter Sicherheit: Ein absurdes Unterfangen
Cybersecurity verführt leicht zu der Vorstellung, irgendwann vollständige Sicherheit erreichen zu können – etwa durch immer bessere Technologie, strengere Gesetze oder lückenlose Überwachung. Doch aus existenzialistischer Sicht gleicht die Jagd nach totaler Sicherheit dem Kampf des Sisyphos: Jedes Mal, wenn man glaubt, den Gipfel der Sicherheit zu erreichen, rollt ein neuer Vorfall oder eine neue Schwachstelle den Stein wieder ins Tal.
In der Praxis bestätigen dies viele Sicherheitsexperten. Trotz massiver Investitionen und Anstrengungen treten ständig neue Sicherheitslücken zutage. Die Arbeit von IT-Sicherheitsabteilungen ist häufig tatsächlich „sisypheisch“: Sie schließen eine Reihe von Schwachstellen, nur um kurz darauf mit einer neuen Welle von Bedrohungen konfrontiert zu werden[4]. Ein Autor beschrieb das Vulnerability-Management einmal so: Man wälzt täglich den Fels der Sicherheitslücke bergauf, nur damit über Nacht neue Lücken entstehen und der Kampf von vorn beginnt. Dieses endlose „Patchen“ und Reagieren vermittelt leicht ein Gefühl der Sinnlosigkeit und Frustration – genau die Gefühle, die Camus mit dem Absurden verknüpft[4]. Das Streben nach perfekter Sicherheit scheint zum Scheitern verurteilt, so wie Sisyphos niemals den Gipfel dauerhaft erreichen kann[4].
Dennoch bietet Camus’ Philosophie hier einen wichtigen Ausweg: Er fordert auf, das Absurde bewusst anzuerkennen und dennoch entschlossen weiterzumachen[4]. Übertragen auf die Cybersecurity heißt das, man muss akzeptieren, dass 100% Sicherheit unerreichbar ist – aber genau darin die Freiheit und Motivation finden, trotzig das Bestmögliche zu tun. Wenn wir aufhören, der Illusion absoluter Kontrolle nachzujagen, können wir unsere Energie viel sinnvoller einsetzen: nämlich darauf, die wichtigsten Risiken zu mindern und resilienter zu werden. Wie Camus sagt, liegt der Sinn letztlich im Tun selbst. So gewinnt die scheinbar absurde Aufgabe der Cyber-Abwehr einen neuen Sinn, wenn man sich darauf konzentriert, jede einzelne Attacke zu vereiteln und Schritt für Schritt Verbesserungen zu erzielen, statt der Utopie eines finalen Sieges hinterherzujagen[4].
Ein praktisches Beispiel: Anstatt zu verzweifeln, weil es niemals keine Sicherheitslücken geben wird, können Unternehmen ihre Strategie ändern. Sie akzeptieren die ewige Unvollkommenheit und richten den Fokus darauf, rasch und effektiv auf Vorfälle zu reagieren, Risiken kontinuierlich neu zu bewerten und damit Schadensbegrenzung zu betreiben. Dieser Wandel vom Perfektionsstreben hin zum pragmatischen Umgang mit dem Unvermeidlichen spiegelt genau Camus’ Idee wider, im Bewusstsein des Absurden Handlungsfreiheit zu finden[4]. Wenn man so will, „lernen wir, den Felsblock des Sisyphos mit neuer Perspektive zu schultern“: Nicht um irgendwann fertig zu werden, sondern weil der Akt des Sicherns an sich wertvoll ist, um die digitale Welt lebenswert und funktionsfähig zu halten.
Philosophisch gesehen liefert die Einsicht in die Absurdität der vollständigen Sicherheit einen befreienden Effekt. Wir erkennen, dass Ungewissheit kein Ausnahmezustand, sondern der Normalzustand ist – online wie offline. Dadurch können wir uns von der lähmenden Fixierung auf totale Kontrolle lösen. Wie Camus es ausdrücken würde: Die Klarheit über das Absurde macht uns frei, unbefangen das Richtige zu tun. In der Cybersecurity heißt das: realistische Ziele setzen, mit unvollständigen Informationen Entscheidungen treffen und grundsätzlich akzeptieren, dass Risiko zum digitalen Leben gehört wie das Amen in der Kirche. Es geht nicht darum, zu kapitulieren, sondern darum, mit klarem Blick das Mögliche zu tun, ohne dem Unmöglichen nachzutrauern.
Freiheit vs. Sicherheit: ein digitales Spannungsfeld
Ein weiteres existenzielles Thema, das im Cyberkontext sichtbar wird, ist der Gegensatz zwischen Freiheit und Sicherheit. In der politischen Philosophie und Gesellschaftsdebatte ist dies ein klassisches Spannungsfeld: Wie viel Freiheit ist man bereit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen? Im digitalen Zeitalter stellt sich diese Frage in neuer Form, da technische Überwachungsmöglichkeiten und Regulierungen persönliche Freiheiten einschränken können – oft mit dem Argument der Cybersecurity.
Im Existenzialismus wird Freiheit als höchstes Gut und Wesenmerkmal des Menschen angesehen, doch Freiheit ist nie absolut, weil die Freiheit des Einzelnen nur in Gemeinschaft mit anderen existieren kann. Übertragen in die digitale Gesellschaft bedeutet dies: Meine Freiheit im Internet findet ihre Grenze, wo sie die Sicherheit anderer oder der Gemeinschaft gefährdet. Umgekehrt können Maßnahmen zum Schutz der Gemeinschaft meine individuelle digitale Freiheit einschränken. Dieses Dilemma zeigt sich etwa in Debatten über Vorratsdatenspeicherung, staatliche Überwachung von Kommunikation oder strenge Regulierungen für soziale Medien.
Ein Beispiel: Um vor Terrorismus oder Cyberkriminalität zu schützen, führen Regierungen mitunter extensive Überwachungsprogramme ein, die potenziell Privatsphäre und Anonymität aller Bürger beschneiden. Hier kollidiert das Sicherheitsbedürfnis mit dem Freiheitsrecht. Existenzialistisch formuliert: Der Mensch hat die Freiheit, seine Daten zu verschlüsseln, anonym zu surfen und selbst zu entscheiden, was er preisgibt – doch die Angst vor Bedrohungen führt zur Bereitschaft, externe Autoritäten in diese Freiheit eingreifen zu lassen. Die Balance zwischen individueller Autonomie und kollektiver Sicherheit ist schwierig: Zu viel Freiheit ohne Sicherheitsstrukturen kann Chaos begünstigen, zu viel Sicherheitspolitik kann einen Überwachungsstaat erzeugen, in dem die persönliche Freiheit verkümmert.
Im Unternehmensumfeld spiegelt sich der Konflikt ebenfalls wider. Angestellte möchten ihre digitale Arbeitsumgebung frei und komfortabel nutzen; gleichzeitig setzen Unternehmen rigide Sicherheitsrichtlinien (z.B. begrenzte Zugriffsrechte, Überwachung von Netzwerkverkehr, obligatorische Passwortrichtlinien) durch, um Datenlecks zu verhindern. Jede zusätzliche Sicherheitsmaßnahme – so notwendig sie sein mag – kann als Einschränkung der Handlungsfreiheit empfunden werden. Wenn z.B. USB-Schnittstellen gesperrt oder Cloud-Dienste blockiert werden, fühlen sich Mitarbeiter in ihrer Arbeitsfreiheit begrenzt. Hier zeigt sich praktisch, was im Existenzialismus theoretisch diskutiert wird: Freiheit ist immer mit Verantwortungsauflagen verbunden. Absolute Freiheit würde im digitalen Kontext bedeuten, dass jeder Nutzer tun und lassen kann, was er will – was aber die Sicherheit aller gefährden würde (etwa wenn niemand Updates einspielt oder jeder beliebige Anhänge öffnen dürfte). Also müssen wir uns selbst Beschränkungen auferlegen oder akzeptieren, um gemeinsam sicher zu sein.
Die Kunst besteht darin, ein gesundes Gleichgewicht zu finden, in dem genügend Sicherheit herrscht, ohne den Kern der Freiheit abzuwürgen. Existenzialistisch gesprochen: Wir müssen unsere Freiheit bewusst einsetzen, um Sicherheit mitzugestalten, statt sie einfach zu opfern. Ein mündiger digitaler Bürger sollte z.B. freiwillig bestimme Sicherheitspraktiken befolgen (Updates, starke Passwörter), wodurch kein Zwang von oben nötig ist. Gleichzeitig müssen Gesellschaft und Staat definieren, welche Maßnahmen legitim sind, ohne die Grundrechte auszuhöhlen. Diese Diskussion ist in vollem Gange und ähnelt einem existenziellen Aushandlungsprozess: es gibt keine einfachen Antworten, sondern wir schaffen die Werte und Grenzen im digitalen Raum gemeinsam, durch unsere Entscheidungen und Gesetze.
Im Sinne Sartres könnte man sagen: Der Mensch ist auch im Digitalen „verurteilt, frei zu sein“ – er muss also frei entscheiden, wie viel Sicherheit er will und wie viel Risiko er für die Freiheit in Kauf nimmt. Keine höhere Instanz nimmt ihm diese Wahl ab. Jede Gesellschaft, jedes Individuum definiert diese Grenze ein Stück weit selbst. Und wir tragen die Verantwortung für die Konsequenzen: Mehr Freiheit kann mehr Gefahren bedeuten, während mehr Sicherheit weniger Freiheiten bedeuten kann. Dieses Spannungsfeld zu navigieren, ist eine der großen Herausforderungen des digitalen Zeitalters.
Verantwortung im digitalen Zeitalter
Mit Freiheit und Angst eng verknüpft ist die Frage der Verantwortung. Im Existenzialismus gilt: Wenn es keinen festen Plan gibt, dann ist jeder Verantwortungsträger seines eigenen Schicksals. Ähnlich verhält es sich in der digitalen Welt – sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene.
Individuelle Verantwortung: Jeder Einzelne, der digitale Technologien nutzt, hat eine gewisse Verantwortlichkeit für die eigene Cybersecurity. Oft werden Menschen als das „schwächste Glied“ der Sicherheitskette bezeichnet, etwa weil menschliche Fehler wie das Klicken auf Phishing-Mails oder unsichere Passwörter viele Angriffe erst ermöglichen. Statistiken zeigen z.B., dass rund 30% der Nutzer auf Phishing hereinfallen[5] – was verdeutlicht, wie groß der menschliche Faktor ist. Es liegt also in unserer Verantwortung, informiert und vorsichtig zu handeln: Software aktuell halten, skeptisch gegenüber unbekannten Nachrichten sein, Backups erstellen und so weiter. Diese Verantwortung kann niemand vollständig abnehmen. Sie ähnelt der existenziellen Verantwortung, dem Leben einen Sinn zu geben: Genauso muss jeder Nutzer selbst aktiv werden, um sich im digitalen Raum sicher zu bewegen. Tut er es nicht, trägt er die Folgen (Datenverlust, Identitätsdiebstahl etc.) zunächst persönlich.
Allerdings wäre es fatal, die Verantwortung allein beim Individuum abzuladen. Auch Organisationen und Staat haben eine gewichtige Verantwortung, die Rahmenbedingungen für Sicherheit zu schaffen. Unternehmen müssen ihre Systeme angemessen schützen, sichere Software entwickeln und für Schäden geradestehen, wenn sie fahrlässig gehandelt haben. Regierungen sind verantwortlich, Gesetze zu erlassen, die Cyberkriminalität bestrafen und gleichzeitig Bürgerrechte wahren. Es geht um Verantwortung auf mehreren Ebenen: der Verantwortung des Einzelnen für sein Verhalten, der Verantwortung von Organisationen für ihre Produkte und Netzwerke, und der Verantwortung der Gesellschaft, ein Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit zu definieren.
Existenzialistisch gesprochen gibt es im Cyberraum kein Ausweichen vor der Verantwortung. Wir können nicht auf „die Technik“ oder „die Experten“ zeigen und uns selbst entschulden – letztlich hängen Sicherheitslücken oft auch an alltäglichen Entscheidungen, die jeder trifft. Wenn z.B. eine Firma leichtsinnig Kundendaten unverschlüsselt speichert und diese gestohlen werden, hilft es wenig, auf einen unbekannten Hacker als alleinigen Schuldigen zu verweisen. Der Vorfall zeigt die unterlassene Sorgfalt und Verantwortlichkeit der Firma auf. Ähnlich kann ein Nutzer, der überall dasselbe Passwort verwendet, im Ernstfall nicht behaupten, er habe keine Wahl gehabt – er hat die Freiheit der Bequemlichkeit über die Sicherheit gestellt und trägt nun die Konsequenz.
In der digitalen Welt wird Verantwortung somit zu einem geteilten Konzept: Jeder trägt sie, niemand kann ihr völlig entfliehen. Das erinnert an Sartres These, dass der Mensch „für alles verantwortlich ist, was er tut“ – sogar dafür, was in der Welt geschieht, denn durch Nichtstun oder Mitmachen ist man Teil davon. Übertragen heißt das: Unsere gemeinsamen digitalen Sicherheitsprobleme resultieren auch aus unserem kollektiven Verhalten. Wie wir uns als Gesellschaft im Netz bewegen, was wir tolerieren, was wir ignorieren – all das formt die Gesamtsicherheit.
Positiv gewendet bedeutet Verantwortung aber auch Handlungsmacht. Wir sind nicht bloß Opfer unbekannter Mächte; wir haben in der Hand, durch kluge Entscheidungen die Risiken zu verringern. Sei es durch Aufklärung, durch bessere Technikgestaltung oder durch Kooperation (z.B. Austausch von Bedrohungsinformationen zwischen Firmen[4]). Verantwortung ermächtigt uns, aktiv an der Gestaltung eines sichereren digitalen Raums mitzuwirken – so wie existenzielle Verantwortung den Menschen ermächtigt, seinem Leben Sinn zu geben. Es ist eine Bürde, aber auch eine Chance zur Selbstbestimmung.
Fazit: Unsicherheit annehmen, Sicherheit neu denken
„Was bedeutet es, in einer digitalen Welt ‚sicher‘ zu sein, wenn Unsicherheit zum menschlichen Grundzustand gehört?“ – Diese Frage haben wir aus zwei Blickwinkeln betrachtet. Einerseits die harte Realität der Cybersecurity: Kein System ist unfehlbar, Bedrohungen entwickeln sich ständig weiter und absolute Sicherheit bleibt Illusion. Andererseits die Philosophie des Existenzialismus: Sie lehrt, dass Unsicherheit unser ständiger Begleiter ist und dass wir gerade in diesem Wissen unsere Freiheit und Verantwortung erkennen.
Aus der Verschmelzung beider Perspektiven ergeben sich wertvolle Einsichten:
- Ungewissheit akzeptieren: Wir müssen die Tatsache akzeptieren, dass im Digitalen wie im Leben nichts 100% sicher ist. Diese Akzeptanz ist keinesfalls eine Resignation, sondern der erste Schritt zu einem mündigen Umgang mit Risiken. So wie der Existenzialist das Fehlen absoluter Gewissheiten annimmt, sollten wir die Unvorhersehbarkeit von Cyberbedrohungen als gegeben hinnehmen – und entsprechend vorbereitet sein, anstatt falscher Sicherheit nachzujagen.
- Bewusste Entscheide treffen: Sicherheit in der digitalen Welt wird durch unzählige kleine und große Entscheidungen hergestellt – von der individuellen Wahl eines sicheren Passworts bis zur politischen Weichenstellung für Datenschutzgesetze. Jeder Akteur ist frei, zu entscheiden, wie wichtig ihm Sicherheit ist und welche Opfer er dafür bringt (Zeit, Komfort, Geld, gelegentlich etwas Freiheit). Diese Entscheidungen sollten reflektiert und verantwortungsvoll getroffen werden. Wir gestalten das digitale Schicksal kollektiv, es ist nicht einfach deterministisch vorgegeben.
- Mit der Angst leben lernen: Anstatt Angst vor Cybergefahren vollständig verdrängen zu wollen, sollten wir sie als Signal und Antrieb nutzen – ähnlich wie existenzielle Angst uns aufrüttelt, unser Leben bewusst zu führen[2]. Ein gesundes Maß an digitaler Wachsamkeit hält uns aufmerksam und lernbereit. Vollkommene Angstfreiheit wäre womöglich Leichtsinn. Die Kunst besteht darin, trotz bestehender Ängste handlungsfähig zu bleiben, uns also nicht lähmen zu lassen.
- Sisyphus neu interpretieren: Die vielleicht tröstlichste Lehre aus Camus’ Mythos: Auch wenn die Aufgabe endlos scheint, verliert sie nicht ihren Wert. Wir werden nie „fertig“ sein mit Cybersecurity – aber genau in diesem dauerhaften Bemühen liegt Bedeutung[4]. Jedes vereitelte Attacke, jeder verbesserte Schutzmechanismus ist ein Erfolg, auch wenn er nicht ewig hält. Wenn wir begreifen, dass Sicherheit kein Zielzustand, sondern ein Prozess ist, können wir den Kampf dagegen als legitimen Teil unseres digitalen Daseins akzeptieren, ja sogar Sinn darin finden.
Am Ende fordert uns die existenzialistische Betrachtung der Cybersecurity dazu auf, mündige Digitale zu sein: Uns der Risiken bewusst zu sein, Verantwortung nicht von uns zu schieben und unsere Freiheit weise einzusetzen. Absolute Sicherheit mag unerreichbar sein – doch in der Spannung zwischen Gefahr und Freiheit entfaltet sich unsere menschliche Autonomie. Sicher zu sein in einer digitalen Welt heißt letztlich, mit der allgegenwärtigen Unsicherheit zu koexistieren: wachsam, frei und verantwortlich. Indem wir das Unvermeidliche annehmen, sind wir besser gewappnet, das Mögliche zu gestalten – getreu dem existenzialistischen Geist, der uns lehrt, trotz aller Absurdität unseren Weg zu gehen. [5][4]
References
[1] ‘There is no such thing as 100% security,’ says Sadie Creese
[2] Was ist Existenzialismus? – Über Freiheit & Verantwortung
[3] Der Mythos des Sisyphos – Wikipedia
[4] Embracing the Absurd: Finding Freedom in Cyber Security
[5] Can you have 100% cybersecurity protection? – WEBIT Services
[6] Mehrheit der Deutschen hat Angst vor Cyberangriffen – und einem …